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Schwarzbuch

Beitrag :„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen…“ von Michael Beleites, DDR-Bürgerrechtler


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und früherer Landesbeautragter für die Stasiunterlagen in Sachsen

 

 

Auf dem Lande gibt es die deutsche Einheit noch nicht. Der Blick in die Statistiken ist erschreckend: Die durchschnittliche Größe landwirtschaftlicher Betriebe beträgt im Osten (197,2 ha) mehr als das Fünffache von der im Westen (35,4 ha). Der Flächenanteil von landwirtschaftlichen Betrieben mit einer Betriebsgröße von über 500 ha an der Gesamtagrarfläche beträgt in Schleswig-Holstein 6,5 %, in Niedersachsen 3,3 %, in Nordrhein-Westfalen 1,4 % und in allen anderen westdeutschen Bundesländern unter 1 %. In den ostdeutschen Bundesländern halten die Betriebe von über 500 ha einen Anteil von ca. 70 %. Was aber noch erschreckender ist: Seit 1992 die flächenbezogenen Agrarsubventionen eingeführt wurden, ist im Osten die Flächenverteilung so gut wie eingefroren. Das heißt, die allmähliche Angleichung der Agrarstrukturen im vereinigten Deutschland geschieht seither nur in der Weise, dass sich der Westen an den Osten annähert…

 

Die einzige nennenswerte Land-Bewegung, die in den letzten 20 Jahren im Osten stattfand und -findet, resultiert aus der Flächenvergabe der Treuhand-Nachfolgerin BVVG (Bodenverwertungs- und Verwaltungs GmbH). Hierbei handelt es sich um Flächen, die im Zusammenhang mit der „Bodenreform“ von 1945 enteignet und in Staatseigentum überführt wurden. Und diese BVVG-Flächenvergabe läuft komplett auf eine Begünstigung derjenigen Agrarstrukturen hinaus, die dem Leitbild der SED entsprechen. Die über 500 ha großen Betriebe sind auch in Ostdeutschland in der Minderheit. Es sind nur 11,3 %. Das heißt: 11,3 % der Betriebe bewirtschaften ca. 70 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Eine Aufstellung der BVVG-Pächter, die zum Direkterwerb berechtigt sind bzw. waren, zeigt, dass über 72 % der Betriebe, die von der BVVG Pachtverträge bekommen haben, zu jener nur 11,3 % umfassenden Gruppe der Betriebe mit über 500 ha gehören. Die ohnehin schon vorhandene Schieflage wurde also durch die BVVG-Flächenvergabepolitik noch schiefer. Wenn man nun noch wüsste, wie viel Fläche diese Betriebe von der BVVG gepachtet haben, würde das Bild vermutlich noch drastischer ausfallen.

Potenzierung des Unrechts

In den BVVG-Privatisierungsgrundsätzen steht: "Die Bundesregierung [...] unterstützt [...] mit ihrer Privatisierungspolitik den berechtigten Wunsch der landwirtschaftlichen Betriebe, sich durch Flächenankäufe die Existenzgrundlage ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit dauerhaft zu sichern." Wie kann es sein, dass eine staatliche Unterstützung der Sicherung einer dauerhaften Existenzgrundlage zu fast drei Viertel jenen Betrieben gewährt wird, die bereits zu den 11,3 % der flächenstärksten Betriebe zählen – und nach dieser Logik eine solche Stützung weitaus weniger nötig haben, als die 88,7 % jener Betriebe, die weniger als 500 ha zur Verfügung haben? Mit der von der BVVG umgesetzten Flächenvergabepolitik verbindet sich die Erblast Bodenreform mit der Erblast Kollektivierung zu einer gegenseitigen Potenzierung des Unrechts, die zu einer Perversion der Agrarstruktur führt. Was die DDR noch nicht zu Ende gebracht hatte, wird nun vollendet: Die 1945 von den Gutsbesitzern enteigneten Flächen werden heute dafür verwendet, um die Begünstigten der Kollektivierung mit riesigen Eigentumsflächen auszustatten. Die im Ergebnis der kommunistischen Klassenkampf-Politik entstandenen agrarindustriellen Komplexe wurden nach 1989 von Christdemokraten und Sozialdemokraten – unter dem Beifall der Kommunisten und Sozialisten – in das Privateigentum einer Minderheit überführt, die bei der Landbevölkerung als die „Roten Barone“ bezeichnet wird. Diese haben nun einen Großgrundbesitz, der den jener Gutsbesitzer und „Junker“, die von den Kommunisten als zu groß befunden und enteignet wurden, etwa um das Zwanzigfache übertrifft.

Eine Obergrenze für die flächenbezogenen Agrarsubventionen würde zur „Benachteiligung der gewachsenen Agrarstrukturen“ in den ostdeutschen Bundesländern führen. Mit diesen Worten verteidigte der sächsische Landwirtschaftsminister, Frank Kupfer, die Sonderposition von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bei der Agrarministerkonferenz vom 28. Oktober 2011.

Auslöschung freier Bauern

„Gewachsen“ sind die Besonderheiten der ostdeutschen Agrarstrukturen ganz und gar nicht. Sie verdanken sich der blanken Gewalt und der flächendeckenden Zwangsmaßnahmen einer menschenverachtenden Diktatur. Die Bodenreform (1946/46), die Kollektivierung (1952-60) und die Industrialisierung (1970er Jahre) waren drei Teile desselben Plans und sie dienten einem zentralen Ziel der kommunistischen Ideologie: der kompletten Auslöschung des Berufsstandes der freien Bauern.

Und eine „Benachteiligung“ derer, die von diesen Verbrechen profitierten und profitieren, hat es auch seit der 1989er Revolution nicht gegeben. Im Gegenteil. Die Begünstigten der SED-Agrarpolitik wurden in den letzten zwanzig Jahren weiter begünstigt – und die von den Kommunisten Geschädigten wurden weiter systematisch benachteiligt. Doch es geht dabei nicht nur um bestimmte Personengruppen: Es geht um die Befestigung der Dominanz einer agrarindustriellen Monostruktur, die im Osten Deutschlands zu einer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verarmung der Dörfer sowie zu einer beispiellosen Einebnung der bäuerlichen Kulturlandschaften geführt hat.

Verlust von Demokratie

Wenn wir es bis heute in Ostdeutschland mit ländlichen Räumen zu tun haben, deren Attraktivität durch Großflächenlandwirtschaft und Agrarindustrie nachhaltig beeinträchtigt ist, dann liegt das nicht allein an der kommunistischen Vorgeschichte. Dass sich die inzwischen über 20jährige Nachwende-Agrargeschichte Ostdeutschlands im Wesentlichen einer gezielten Manipulation im Sinne einer von der SED-Diktatur begünstigten Minderheit verdankt, zeigt Agrarexperte Jörg Gerke in seiner aktuell von der AbL herausgegebenen Schrift „Ostdeutsche Bodenpolitik nach 1990“ sehr anschaulich. Es mag nur die Spitze des Eisbergs sein, was er hier dokumentiert. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen…“ Jörg Gerke folgt dieser biblischen Weisheit und bewertet die ostdeutschen Agrarpolitiker nicht anhand ihrer Beteuerungen, sondern anhand der Ergebnisse ihres Tuns. Mehr und mehr zeichnet sich ab, dass hier der gefährliche Trend einer schleichenden Umwandlung unserer freiheitlichen Demokratie in eine plutokratische Oligarchie begonnen hat, die nur noch die Einzelinteressen einer vermögenden Minderheit verfolgt. Während sich alle öffentliche Aufmerksamkeit auf rechts- und linksextremistische Aktivitäten richtet, wird weitgehend übersehen, dass sich aktuell noch eine ganz andere und wohl gefährlichere Entwicklung abspielt: Die Ernährung der Gesamtbevölkerung wird in die Verfügungsgewalt einer privilegierten Minderheit übergeben. Künftige Regierungen werden auf Gedeih und Verderb von dieser Gruppe abhängig sein. Sind es nicht rechtsstaatswidrige und verfassungsfeindliche Aktivitäten, wenn durch heutiges Regierungshandeln künftige Regierungen erpressbar gemacht werden?

Gerkes Dokumentation ist mehr als nur eine Betrachtung zu einem Teilgebiet ostdeutscher Politik. Im Kern geht es um die Frage, wie unser Staatswesen mit jenem Gut umgeht, das seit jeher die grundlegende Basis jeglicher gesellschaftlicher Entwicklung ist: mit dem Boden. Dies ist ein vernachlässigtes Thema, aber dennoch eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit.

Michael Beleites, DDR-Bürgerrechtler