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Schwarzbuch

Einfach enteignet: Wie die Familie Ermisch ihr Grundstück verlor.../Der Tagesspiegel v. 11.03.2008


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Wie die Familie Ermisch ihr Grundstück verlor - ohne ihr Wissen, ohne ihr Zutun. Bis heute ohne Erklärung.

Von Ralf Schönball 
 Saalow - Charlotte Ermisch ist 106 Jahre alt. Sie lebt immer noch in ihrem eigenen Haushalt. Die Ein-Zimmer-Wohnung ist nicht weit entfernt von Saalow bei Zossen. Dort liegen die Grundstücke, die sie mit ihrem Mann Alfred und ihren Söhnen 50 Jahre lang bestellte: 3200 Quadratmeter. Erst im Jahr 1998 wurde ihr das zu viel. Da beschloss sie mit den Kindern, das Bodenreformland zu verkaufen. Was sie nicht wusste: Der Boden, auf dem Charlotte lebte, war ohne ihr Wissen in andere Hände gelangt. Ihr Ehemann war aus dem Grundbuch verschwunden. Und andere sollten später mit dem Bauland gute Geschäfte machen.

Diese Geschichte handelt von Bodenreform-Gütern und deren Erben. Den Umgang der brandenburgischen Landesregierung mit diesen hatte der Bundesgerichtshof Ende 2007 in anderem Zusammenhang als eines „Rechtsstaates nicht würdig“ beschrieben und „sittenwidrig“ genannt. Über ähnliche Fälle wie der BGH hatte das Brandenburgische Oberlandesgericht befunden, „dass jegliche Kontrolle des Verwaltungshandelns – entgegen dem Grundsatz der Gewaltenteilung – unterblieb“. Unter „Verletzung gesetzlicher Vorschriften“ wurden Eintragungen vorgenommen, „durch die das Grundbuch unrichtig geworden ist“.

Haymo Ermisch legt die Hand ans Kinn und blickt nachdenklich aus dem Fenster in den Himmel über der Mark. Charlottes viertes Kind hatte schon immer die engste Bindung zur Mutter. Das war weniger eine Frage der Wahl als der Umstände: In den 40er Jahren waren Charlottes Mann und die älteren Söhne an West- und Ostfront. Ihr jüngster Sohn war erst zwei, so blieb ihr nur Haymo. Dem Sechsjährigen vertraute sie sich an. So übernahm er, lange vor der Zeit, Verantwortung.

Diese Rolle hat Ermisch heute noch: „Haymo, komm mal vorbei“, so ruft Mutter Charlotte nach ihm, wenn Entscheidungen getroffen oder Korrespondenz erledigt werden müssen. Weil er das Vertrauen der Mutter rechtfertigt, sollte er auch die Grundstücke der Familie an der Fasanenstraße in Saalow verkaufen. Doch als er 2000 daranging, war ein Teil des Bodens weg. „Die haben uns über den Nuckel jezogen“, sagt Ermisch heute.

Der Himmel über Saalow ist bedeckt. Ein kühler Wind pfeift über das Land. Neubauten stehen an der Fasanenstraße 6: Der eine ist eine ockerfarbene Stadtvilla, das andere schreit geradezu nach Aufmerksamkeit: knallrote Fensterläden vor grauer Fassade und ein Flachdach. „Das kenne ich noch gar nicht“, sagt Ermisch und zieht sein Cape ins Gesicht. Auch die zweite Reihe des früheren Familienerbes ist bebaut worden, seitdem er das letzte Mal da war: Ein Bungalow steht da, dreißig Meter in der Tiefe des Grundstücks.

Die Eigentümer der Häuser kennt Ermisch auch nicht. Zwei Frauen sind in das Grundbuch eingetragen. Wie sie da hineinkamen? Ermisch weiß es nicht. Niemand teilte seiner Familie je mit, dass ihr dieses Grundstück nicht gehören solle. Es wurde ihr einfach genommen. Ohne Warnung. Ohne Begründung.

Deshalb wäre Ermisch bis zum Jahr 2000 überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass dieses Land nicht familieneigen sein könnte. Denn der Grund war den im Krieg ausgebombten Berlinern bei der Bodenreform in der späteren DDR als Neubauernland überschrieben worden. Hier hatte die Familie Getreide gezogen, Enten, Ziegen und Hühner gehalten. Ermisch hat Grundbuchblätter, Erbscheine und Urkunden. Er hat sogar Belege, dass Familienangehörige zu DDR-Zeiten in LPG-nahen Betrieben tätig waren. Das reichte sogar dafür, dass die Ermischs auch nach den komplizierten Regeln des Bodenreformrechts nach der Wende Anspruch auf ihre Grundstücke hatten.

Doch dann geschah das, was Ermisch bis heute nicht fassen kann: „Die haben gesagt, das gehört anderen“. Ohne Begründung, ohne Bescheid. Warum er nicht nachhakte? „Für einen gelernten DDR-Bürger ist das Amt eine Autorität“, sagt er.

Ermisch fügte sich. Acht Jahre lang. Bis zu jenem Urteil des BGH – und den Berichten zu 10 000 Fällen unrechtmäßig enteigneten Landes. Jetzt geht es in die „zweite Runde“. So hat er es auf das Papier geschrieben, das er mit Lineal akkurat in Kästchen aufgeteilt hat. Ermischs „Erinnerungsprotokoll“. Alles, was er im Ringen um das Erbe unternahm, Termine, Wege, Ansprechpartner, hielt er darauf fest, um Streit mit den Brüdern zu vermeiden. Nun wird dieses Protokoll der Kosten und Mühen zum zentralen Baustein in der Rekonstruktion undurchsichtiger Vorgänge.

Denn ebenso akribisch sammelte Ermisch Schreiben, Urkunden und Dokumente von Ämtern, die alle dasselbe besagen: Die Ermischs sind die Eigentümer des Grundstücks, das ihnen nicht mehr gehören soll.

Da ist eine Kopie des Grundbuchblattes, in dem Vater Alfred als Eigentümer steht. Da ist der „Ermittlungsbogen für Eigentumsrückübertragung“, der im Juli 1992 unterschrieben und abgestempelt wurde vom „Kataster- und Vermessungsamt Dienststelle Wünsdorf“: Auch darauf steht Alfred Ermisch als Eigentümer: „1957 - heute“. Sogar die „Geschäftsstelle des Amtsgerichtes, Kreisgericht Zossen“ weist „in der Nachlasssache Alfred Ermisch“ das Grundstück seiner Frau Charlotte und seinen Kindern zu.

Dann sind da noch die zwei wohl wichtigsten Urkunden, die wie die anderen besagen: Ermisch ist Eigentümer. Das Amt zur Regelung offener Vermögensfragen – die „Superbehörde“ zur Klärung der Frage, wem im Osten was wirklich gehört, schrieb am 15. Mai 1998, dass Alfred Ermisch „immer noch im Grundbuch steht“. Entsprechend schrieb auch Steffi F. vom „Grundstücks- und Vermögensamt Potsdam“ am 6. 11. 1998 an Ermisch: „Durch das Amt zur Regelung offener Vermögensfragen wurde mir mitgeteilt, dass Sie Erbe des oben genannten Grundbestandes sind.“

Rechtsanwalt Ulrich Mohr ist ein vorsichtiger Mann mit einem Faible für Dinge, die aus der Zeit herausfallen: Die alte Uhr mit den schweren Pendeln im Vorzimmer seiner Kanzlei geht, wenn sie nicht überhaupt steht, falsch. Sein Schreibtisch ist aus massivem Holz und die Stühle aus den Zwanzigern haben hohe verzierte Rückenlehnen und lange breite Armlehnen. Auf der Krawatte des Anwalts und Notars ist eine Zeichnung von Loriot aufgedruckt: Herr Müller-Lüdenscheid und Doktor Klöbner in der Badewanne im Streit um die Badeente.

Dieser Mann hat das vernichtende Urteil gegen das Land Brandenburg vor dem Bundesgerichtshof erstritten. Mohr vertritt auch Ermisch. Er sagt: „Es ist nicht nachzuvollziehen, auf welcher Grundlage das Grundstück übertragen wurde.“ Auf dem Grundbuchblatt, wo Ermisch eingetragen war, taucht der neue Eigentümer nicht auf. Dieser steht stattdessen auf einem neu angelegten Blatt. Ein Verweis auf dieses neue Blatt auf dem alten aber fehlt ebenfalls – und das alte Blatt fand sich in einer anderen Akte. Dies verstößt Mohr zufolge gegen Grundbuchrecht, weil diese Umschreibung nicht nachvollziehbar sei.

Mohr stieg in die Archive ab und fand heraus: Das Grundstück wurde geteilt, die zwei neuen Flächen erhielten neue Flurstücknummern. Eigentümer auf dem neuen Blatt ist eine „LPG-Tierproduktion“. Von Ermisch keine Spur. Auch dieses Blatt wurde bald aufgegeben und wieder ein neues Blatt mit neuer Nummer angelegt – ohne Spur von Ermisch.

Was sagen Experten zu der dubiosen Eintragung der LPG als „Eigentümer“? „So etwas habe ich noch nie gehört“, sagt Jürgen Gruhle. Er hat bis zur Wende im damaligen „Liegenschaftsdienst“ der DDR gearbeitet. Er sagt: „Grundeigentum und Grundbücher haben zu DDR-Zeiten niemanden interessiert, am allerwenigsten die LPGs“. Denn diese konnten ganz nach Belieben über Grundstücke verfügen: Sie bestellen, bebauen oder verpachten, als Freizeitgrundstück oder als Müllkippe nutzen. Der Eigentümer im Grundbuch hatte kein Mitspracherecht. Diese Befugnisse der LPG goss die Volkskammer der DDR 1982 sogar in ein „LPG-Gesetz“. Warum sollte eine LPG vier Jahre später eine sinn- und nutzlose Eintragung ins Grundbuch anstreben? „Da ist irgendetwas faul“, glaubt Gruhle.

Die Eintragung der LPG soll angeblich „mit Wirkung vom 01. 03. 1986“ erfolgt sein. Doch selbst wenn es so gewesen wäre: Wie sollten gleich vier Ämter, zuletzt 1998, diese Enteignung übersehen haben? Und warum wäre Ermisch 1997 im Auftrag des Landes zum Anschluss des Grundstücks an das Wassernetz gezwungen und dafür zur Kasse gebeten worden, wenn es nicht sein Eigentum wäre?

Die Brandenburgische Ministerin der Justiz, Beate Blechinger (CDU), schreibt: „Das Land Brandenburg hat niemals Grundbücher manipuliert. Dem Ministerium für Justiz liegen keinerlei Hinweise darauf vor, dass eines der ihm unterstehenden Grundbuchämter Grundbuchseiten hätte verschwinden lassen oder dass unter Verwendung des zu DDR-Zeiten gebräuchlichen Stempels „Zurückgeführt“ Grundbücher manipuliert und dass auf diesem Wege Eigentümer aus dem Grundbuch gelöscht wurden.“

Noch dubioser wird der LPG-Eintrag, wenn man Experten für Bodenreformfragen zu Rate zieht: „Nach DDR-Recht war die Ehefrau nach dem Tod ihres Mannes zur Hälfte Eigentümerin der Neubauerfläche“, sagt Lothar Schramm. Das sah das Familiengesetzbuch von 1965 vor. Charlotte Ermisch hätte also gar nicht aus dem Grundbuch gelöscht werden dürfen. Und: Die DDR habe ohnehin gar kein Interesse daran gehabt, Neubauern Flächen abzunehmen, die sie in den „Privatbesitz der werktätigen Bauern“ übertragen hatte. Wenn es vorkam – oft, weil Neubauern ihren damals wertlosen Boden nicht mehr beackern wollten – dann verlangte die „Besitzerwechselverordnung“ der DDR, dass der „Rat des Kreises“ dazu tagte. Der Rat musste nach Anhörung des Neubauern die Höhe des Wertzuwachses festlegen, der durch die Bestellung des Landes erzielt wurde. Dann wurde der Neubauer „entschädigt“. Doch auch davon steht im Fall Ermisch nichts in den Grundbüchern, sagt Rechtsanwalt Mohr.

„Da war nüscht, sonst wüsste ich es“, sagt Haymo Ermisch. Seit dem Tod seines Vaters, 1983, erledigt er für seine Mutter die Korrespondenz. Er ist ein akribischer Chronist der Familienangelegenheiten. Auch Fotos, die den Krieg überstanden haben, heftete er akkurat ab: Da steht der Pimpf in Schöneberg vor dem Gründerzeithaus, wo seine Mutter als Kammerfrau arbeitete. Charlotte wäre 1946 gerne nach Berlin zurück. Doch Alfred wollte nicht in das Trümmermeer. Wegen des Saalower Landes. Hier hatten die Neubauern ihr kleines aber sicheres Auskommen. Auf dem Boden, der ihnen nach der Wende unter den Füßen weggerissen werden sollte.

Der Tagesspiegel